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Niki Eideneier (Hrsg.): Die Sonnenblumen der Juden

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2017-02-01 2017-04-24 01.02.2017

Fast 90 Prozent der vor dem Zweiten Weltkrieg rund 80000 in Griechenland lebenden Juden wurden Opfer des Holocaust. War Thessaloniki um 1900 eine ganz jüdisch geprägte Stadt, so zählt die dortige jüdische Gemeinde heute noch etwa 1500 Mitglieder. Eine Anthologie zum Leben und Schicksal der griechischen Juden hat jetzt Niki Eideneier in ihrem Romiosini Verlag unter dem Titel „Die Sonnenblumen der Juden“ herausgebracht. Zu Wort kommen Griechen und griechische Juden, Familienmitglieder ebenso wie Nachbarn und Freunde, betroffene und auch unbeteiligte Autoren, die in ihren Texten, Erzählungen ebenso wie Gedichten, ihre persönlichen und erdachten Erlebnisse und Gefühle verarbeiten. Aufgrund dieser breitgefächerten Auswahl ist die literarische Qualität der in dieser Anthologie veröffentlichen Texte naturgemäß unterschiedlich.

Nichtsdestotrotz berühren viele der Texte und vermitteln dem Leser einen Eindruck vom Alltag eines jüdischen Lebens, das es in dieser Form nicht mehr gibt. Niki Eideneier bejaht in ihrem Vorwort ganz klar die Frage, ob Augenzeugenberichte auch Literatur seien, und stellt fest, dass aus der Tragik der Ereignisse heraus es den Autoren gelungen sei, „den Aussagen einen auch literarischen, genauer gesagt elegischen Ton zu verleihen“.

Die „literarischen Zeugnisse über die Juden in Griechenland“ werden in drei große Abschnitte unterteilt präsentiert: Mit dem Leben der Juden und ihrem Zusammenleben mit den nichtjüdischen Einwohnern vor dem Holocaust befasst sich der erste Teil. Der Zweite Weltkrieg, die deutsche Besatzung Griechenlands von 1941 bis 1944, der Abtransport der jüdischen Einwohner Griechenlands und im Widerstand tätiger Griechen durch die Nationalsozialisten in die Konzentrations- und Vernichtungslager werden in einem zweiten Teil behandelt – unter anderem durch viele Zeugenaussagen. Der dritte Teil widmet sich der Literatur „nach Auschwitz“: Überlebende Juden und Nichtjuden reflektieren, oft sehr kritisch, in Prosatexten und Gedichten.

Manolis Anagnostakis (Thessaloniki 1925-2005 Athen), Nikos Bakolas (Thessaloniki 1927-1999), Dimitris Chatzis (Jannena 1913-1981 Athen), Dinos Christianopulos (Thessaloniki 1931), Mimika Cranaki (Lamia 1922), Iakovos Kambanellis (Naxos 1922), Konstantinos Kavafis (Alexandria/Ägypten 1863-1933), Nikos Kokantzis (Thessaloniki 1927), Kostula Mitropulou (Ptäus 1943-2004 Athen), Albertos Nar (Thessaloniki 1947-2005), Dadi Sideri (geboren in Thessaloniki), Jorgos Skambardonis (Thessaloniki 1953), Mikis Theodorakis (Chios 1925), Vassilis Vassilikos (Kavala 1934), die Liste der mit Texten oder Ausschnitten aus Büchern vertretenen, auch dem deutschen Publikum bekannten Autoren ließe sich noch verlängern. Und doch stellt die Herausgeberin Niki Eideneier, die neben vielen weiteren Übersetzern auch Texte dieser Anthologie, vor allem Gedichte, ins Deutsche übertrug, in ihrem Vorwort fest: „Nicht annähernd alle Texte, die mir zugänglich waren und die mit dem Thema Juden in Griechenland zu tun haben, sei es als vollständige Romane, Erzählungen, Augenzeugenberichte oder Passagen“ hätten in dem Buch Platz finden können. Das Kapitel „Berlin. Eine Jüdin“ aus Nikos Kasantzakis‘ „Rechenschaft vor El Greco“ lässt sich zum Beispiel in der vorliegenden Anthologie in einem neuen Kontext entdecken. Einige der Beiträge wurden eigens für dieses Buch verfasst wie beispielsweise „Saloniki – Mutter Israels. Zur Geschichte der sephardischen Juden von Saloniki“ von Manuel Gogos (Jahrgang 1970). Der in Deutschland lebende Grieche schreibt: „Die Lebenswelt der Sepharden von Saloniki ist eine untergegangene, eine versunkene Welt, als läge sie am Meeresgrund wie Atlantis. Diese Unwiederbringlichkeit ist es, die meinen Erkenntnisdrang so leidenschaftlich an die Geschichte der Stadt fesselt. Es geht in dieser Archäologie der Lebenswelt um die Bergung von Augenblicken, von Gedankensplittern und Sprachfetzen; von Geschichten, die in der Geschichte verschüttet sind.“ Gogos‘ Text ist wie auch der Beitrag „Die verwüstete ,Mutter Israels‘. Ruhmes- und Leidensstätten des Judentums in Thessaloniki“ von Christos Safiris (Krania/Elassona 1945) den eigentlichen drei Teilen der Anthologie sozusagen als Einleitung vorangestellt. Als eine Art Zusammenfassung und Nachwort steht Anastassis Vistonitis‘ erstveröffentlichter Beitrag „Die griechischen Juden im 20. Jahrhundert am Ende. Sowohl Safiris als auch Gogos und Vistonitis berichten, dass vor allem die jüdische Gemeinde in Thessaloniki das Zentrum der Juden in Griechenland, deren Geschichte sich ab der Zeit der Römer belegen lässt, bildete. Bis ins 19. Jahrhundert war die Stadt, die zur Blütezeit des intellektuellen Lebens im 16. Jahrhundert „Mutter Israels“ genannt wurde, Anlaufstelle und Zufluchtsort der Juden aus Zentraleuropa, Italien, Spanien, Portugal und Russland, so Niki Eideneier in ihrem Vorwort.

Biographische Angaben zu den Autoren, Quellenangaben und Hinweise auf weiterführende Literatur komplettieren die lesenswerte Anthologie, die durch die Kunststiftung NRW gefördert wurde. Der Titel ist einem Gedicht von Jorgos Ioannou entlehnt (übertragen von Birgit Hildebrand):

Die Sonnenblumen der Juden
Jedes Mal wenn unsere Treppe knarrt,
denke ich „sind sie es etwa endlich“,
und dann gehe ich weg und male
stundenlang knallgelbe Sonnenblumen.

Doch morgen werd ich, bis man mich
vergisst im Wartesaal, den Zug
aus Krakau abwarten.

Um dann spät nachts, falls sie ausstiegen,
blass, mit zusammengebissenen Zähnen,
„viel zu spät habt ihr mir geschrieben“
hinzuwerfen, als wäre nichts.


Niki Eideneier (Hrsg.): Die Sonnenblumen der Juden.
Die Juden in der neugriechischen Literatur.
Romiosini Verlag Köln. 400 Seiten.
ISBN 978-3-929889-77-2.